Arbeitsweise und künstlerischer Ansatz

Verschiedene Medien zeitgenössischer Kunst, wie Malerei, Experimentalfilm und Videokunst, sind vorwiegend von Arbeiten repräsentiert, die es dem Betrachter abverlangen, tief in die Gedankenwelt des Künstlers einzutauchen, um seine Intentionen und Gefühle nachzuvollziehen. Jeder Künstler sieht sich dem scheinbaren Zwiespalt gegenüber, einerseits seine Gedanken und Gefühle verständlich zu transportieren und andererseits nicht Klischees zu wiederholen und eingefahrene Sehgewohnheiten zu bestätigen.

Die resultierende Reaktion vieler Künstler ist, sich soweit wie möglich von etablierten Sehgewohnheiten zu distanzieren, um ihren „ganz persönlichen“ künstlerischen Ausdruck zu kreieren, eine Position, die sicherlich berechtigt ist und Reflexionsprozesse über Seh- und damit auch Konsumgewohnheiten medialer Werke überhaupt erst möglich macht. Die damit verbundene Gefahr ist allerdings, dass die Entfremdung zum Selbstzweck wird, sogar als Voraussetzung und Gradmesser eines „guten“ Kunstwerkes gilt; Kunst der Kunst wegen. Je größer die Distanz zwischen der persönlichen Bilder- und Gedankenwelt des Künstlers und dem gesellschaftlichen Konsens ist, wie auch immer dieser zustande kommen mag, desto weniger Menschen haben Zugang zu der Arbeit des Künstlers. Der damit einhergehende Reflexionsprozess wird daher nur wenigen Menschen zuteil. Die Bedeutung des Kunstwerks entsteht über den Inhalt des Kunstwerks und die Aufmerksamkeit für das Kunstwerk. So gesehen, ist die künstlerische Arbeit eine Gratwanderung zwischen klischeehafter Inhaltsleere und abstrakter Unverständlichkeit.

Während des Studiums war mir die Auseinandersetzung mit dem Leben außerhalb des universitären Rahmens eine wichtigere Schule, als der akademisch-künstlerische Diskurs. Mein soziales Umfeld bestand und besteht aus Menschen, die nicht künstlerisch tätig und mit dem akademischen Vokabular um „adäquat“ über Kunst zu sprechen, nicht vertraut sind. Ihre Kategorien sind zwangläufig andere, ihre Ansichten sind mitunter unreflektierter, weniger durch Lehrmeinungen verstellt, was direkte, ungefilterte Assoziationen ermöglicht. Es war und ist mir immer ein Anliegen gewesen, diesen Menschen meine Gedanken und Gefühle nahe zu bringen. Daher sind meine Arbeiten immer recht gefällig dem Publikum gegenüber geblieben und haben einen gewissen Unterhaltungswert. Es sollte Spaß machen, meine Arbeiten zu sehen. Der dadurch erreichte Zugang des Betrachters diente mir als Mittel, gezielt Brüche der Sehgewohnheiten zu verursachen, den Betrachter zu verwundern und ihn dadurch an dem Prozess teilhaben zu lassen, den ich bei der Erarbeitung des jeweiligen Werkes durchlebt habe. Der Blick einer Person, die nicht analytisch, sondern intuitiv auf die Arbeit blickt, weil sie sich nicht seit Jahren mit dem Entstehen und Bearbeiten von Bildern beschäftigt, erscheint mir dabei oft hilfreicher als die Meinung von jemandem, der seit Jahren mit dem Ausdruck seiner eigenen Bilder- und Gedankenwelt beschäftigt ist.

Die Reaktionen, die meine Arbeiten auslösen und der dadurch entstehende Diskurs stehen für mich im Mittelpunkt. Sie ermöglichen eine Relativierung und Weiterentwicklung der eigenen Ideen und Bilder. Dort wo ich mit einer Arbeit einen scheinbaren Endpunkt setze, fängt der Prozess für den Betrachter und somit der eigentlich interessantere Vorgang erst an.

Zwischenmenschliche Prozesse und Mechanismen standen immer im Focus meiner künstlerischen Arbeit. Dabei war es mir wichtig, immer persönliche Aussagen zu treffen, einerseits weil alles, was ich ausdrücke zwangsläufig subjektiv ist, andererseits weil meine Themen nicht einzigartig und exklusiv sind, sondern im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext gesehen werden müssen. Gerade das macht sie interessant für andere.

Gegen Ende meines Studiums entdeckte ich das Psychogramm als ein Mittel um vielschichtige Gedanken über diese Prozesse darzustellen, wie in meiner Arbeit „cafards“ im Ansatz, vor allem aber in meinem Abschlussfilm „Tim und Lisa“ zu sehen ist.

Cafards (Selbstportrait)

Eine Projektion wird über einen Spiegel von der Decke auf den Boden in die Mitte des Raumes geworfen. Sie zeigt einen Mann, der mit einer weißen Decke auf einer Matratze mit rotem Laken schläft. In einer Ellipse um ihn herum wuseln etliche Kakerlaken. Sobald der Betrachter den Kreis betritt, wird die Projektion hell, als würde das Licht angehen. Die Kakerlaken verschwinden unter der Matratze des Schlafenden und der Mann wacht auf. Er richtet sich leicht auf und fängt an, durch lautes Brummen seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen. Wenn der Betrachter den Kreis verlässt legt sich der Mann wieder schlafen und die Kakerlaken kommen wieder heraus.

Die Installation entstand in Marseille in einem Zimmer des an die Universität angeschlossenen Wohnheims, in dem sicherlich mehr Kakerlaken als Menschen wohnen. Ich war anfangs oft alleine in meinem winzigen Zimmer in einem verwahrlosten Wohnheim. Ich verfiel in einen Zustand, den ich auch von zuhause kannte, der unter diesen Umständen aber extreme Züge annahm. Ein Zustand der Isolation und des Versteckens, ein schleichender Prozess der geistigen Unhygiene. Ich verkroch mich in meinem Zimmer und spielte Tage und Nächte lang Computerspiele, mein Zimmer, an sich schon nicht besonders einladend, glich oft einer Müllhalde. Ich schlief viel, doch der Schlaf verfehlte seine reinigende Wirkung und ich erwachte noch müder, als ich eingeschlafen war. Ich versteckte mich vor Menschen, ging erst in die Küche oder ins Bad, wenn ich im Flur niemanden mehr hören konnte und versuchte, möglichst niemandem zu begegnen, wenn ich mein Zimmer verlassen musste, um einkaufen zu gehen. Dies geschah aus einer Angst heraus, bei einer Begegnung mit jemandem, den ich kenne, sozial interagieren zu müssen, ihm erzählen zu müssen wo ich die letzten Tage war und letztlich meinem Gegenüber meinen Zustand offenbaren zu müssen. Ich machte mir viele Gedanken, wie ich nach außen wirken würde, nach jeder Begegnung, nach jedem Gespräch überlegte ich, was ich gesagt hatte, wie ich rübergekommen war und ob ich etwas Falsches gesagt oder getan hatte, mich auf irgendeine Weise seltsam oder abneigend verhalten hätte. Die Vorstellung, jemand könnte mich nicht mögen oder schlecht über mich reden, war mir ein Graus. Ich machte mir viel mehr Sorgen um meine Außenwirkung als um meinen tatsächlichen Zustand, den ich, obwohl mir bewusst war, dass er nicht gesund sein könnte, mir selbst und jedem der mich fragte, als notwendige Ruhephase oder als „bisschen chill‘n“ verkaufte.

Dieser Zustand hielt nie lange an, war immer nur von kurzer Dauer, ich schaffte es auch hier, mich aufzuraffen und raus zu gehen, wie es mir schon etliche Male vorher gelungen war. Aber ein Bild blieb: Ich allein in einem Bett und um mich herum Kakerlaken, schädliche Gedanken, verworrene Wünsche, die ein Eigenleben zu führen scheinen. Jemand, der in den Kreis tritt, diesen Zustand stört ist einerseits ein

Störenfried und andererseits jemand, vor dem es gilt, den Schein zu wahren, sich als makellos und im Einklang mit sich selbst darzustellen. So entstand dieses Selbstportrait. Sobald der Kreis betreten wird, ziehen sich die Schädlinge in ihr Versteck zurück, dahin, wo es dunkel ist. Aber sie sind immer da, sobald es dunkel wird, kommen sie wieder zum Vorschein, umwuchern den Schlafenden.

Die Arbeit befasst sich mit einem Zustand, den jeder kennt, begründet auf der Unfähigkeit, in einem sozialen Gefüge zu funktionieren und zu agieren und einer daraus resultierenden Angst vor Ablehnung. Diesen Zustand darzustellen, war mir wichtig und auch wenn nicht jeder sofort alle meine Intentionen erkennen und teilen wird, so verlässt der Betrachter den Raum mit einem bestimmten Gefühl. Durch die verwendete Symbolik werden Fragen aufgeworfen, die den Betrachter anregen über seine Version dieses Gefühls und seine Reaktionen darauf nachzudenken. Eben weil dieser Zustand ein Problem für mich darstellte und es mich immer wieder viel Überwindung und Kraft kostet, ihn hinter mir zu lassen, war es mir wichtig, dieses Bild zu zeichnen und jeden die Frage zu stellen: „Wie ist das bei dir? Wie gehst du damit um?“

Fenster und Sonnenbrille - Schwarzwurzel 2010

Der Kulturverein Schwarzwurzel organisiert seit 2010 verschiedene Projekte und Veranstaltungen in Steinach, einem kleinen Ort im Thüringer Wald an der Grenze zu Bayern. Schwerpunkt der 2010 in einer alten Spielzeugfabrik stattfindenden Ausstellung war das Thema „Verwurzelung, Entwurzelung, verschwindende Arbeit und lokale Schicksale“. Die im Rahmen dieser Ausstellung entwickelte Installation zeigt zwei Videoprojektionen in einer Ecke des Raumes. Die eine zeigt ein Fenster mit einem Kissen zum Abstützen und darin eine Fahrt durch Steinach, die andere ein Gesicht eines Mannes, der durch den Ort fährt und in dessen Sonnenbrille der Ort reflektiert wird. Eine Gruppe Großstädter, Künstler, Architekten, Fotografen in einem verschlafenen Nest mehr als eine Stunde von der nächsten Fernstraße entfernt, dessen Hochzeit zu Zeiten des Schieferabbaus mehr als 50 Jahre zurückliegt. Für die Menschen, die hier leben, sind wir seltsame Yuppies, die sich hinter Autoscheiben und Sonnenbrillen verstecken, die den Ort allenfalls durchfahren oder sich in den Sackgassen verirren. Für uns sind sie rückwärtsgewandte Hinterwäldler aus einer anderen Zeit, die an ihrem Fenster hockend das Nichts draußen auf der Straße beobachten. Gleich ist uns nur der Ort, in dem wir sind. In der Kürze der Zeit blieb uns nichts, als diesen Zustand zu beschreiben.

destruction: Eine Ode an die Lust zu zerstören

„Hast Du jemals erlebt, wie etwas so schön zusammenkracht?“ – Alexis Sorbas (Zorba the Greek), USA; Großbritannien, Griechenland 1964

Bilder von Zerstörung aus Hollywood-Produktionen (Drei Engel für Charlie, Independence Day) und selbst hergestelltem Material werden schnell hintereinander geschnitten. Hier Drew Barrymore, wie sie durch eine Glasscheibe springt oder mit einem Auto durch eine Wand fährt. Da ein seltsam anmutender Typ mit Schutzbrille, der in einer Garageneinfahrt steht und mit einem Vorschlaghammer Porzellanfiguren zerschlägt oder untermalt von lautem Gelächter große Steine auf einen alten Fernseher wirft. Das Finale bildet die Explosion des Weißen Hauses, dem Sinnbild von Ordnung und System in der westlichen Welt in einem für damalige Verhältnisse beispiellosen Spezialeffekt. Danach wird zusammengekehrt.

Die Freude an der Zerstörung ist in unserem Bewusstsein allgegenwärtig, tief verankert und fester Bestandteil unserer Sehgewohnheiten. Gewaltexzesse werden kollektiv zelebriert und medial inszeniert, ob im Stadion oder im Kino. Eine scheinbar sinnlose Handlung wird zwar oft in einen Kontext eingebettet, ist aber dennoch vorwiegend Selbstzweck. Was wäre ein Hollywoodfilm ohne Actionszenen, ohne fliegende Autos und Explosionen?

Sinnlose Zerstörung hingegen verbietet sich in unserer Gesellschaft. Eine Kanalisierung von Aggressionen, die in Zerstörung mündet, wird grundsätzlich abgelehnt, ohne die jeweiligen Gründe zu hinterfragen. Aggression an sich wird stark tabuisiert, was es Menschen mit einem Hang zu aggressiven Verhalten schwermacht, dieses zu thematisieren und zu kanalisieren, obwohl sie ein Teil von jedem von uns ist.

Die Gegenstände, die unter meinem Hammer landeten, waren vorwiegend aus dem Haus meiner Großmutter, die kurz zuvor verstorben war. Somit war die Zerstörung dieser Dinge auch eine Art Abschied, eine Befreiung von Altlasten und ein nach vorne schauen. Ich war schon immer jähzornig, habe Türen geschlagen und Löcher in Möbel getreten. Die meisten Menschen reagieren erschrocken auf ein solches Verhalten, weil sie Angst haben, diese Aggressionen könnten sich gegen sie richten. Obwohl jeder, der mich kennt, weiß, dass ich nie einem meiner Mitmenschen absichtlich weh tun würde, reagieren selbst engste Mitmenschen verstört. Für mich allerdings stellt das Ausleben von Aggressionen eine unverzichtbare Ausgleichshandlung dar, die eine unmittelbare reinigende Wirkung nach sich zieht. Ich befreie mich von der Aggression, die in mir steckt, was die Voraussetzung dafür ist, die Gefühle, die diese ausgelöst haben, zu erkennen und zu verarbeiten.

Der Film sollte eine Reflexion über dieses Problem anregen, wobei mein Ansatz kein intellektueller, sondern ein intuitiver ist. Die Zerstörungen, die im Film gezeigt werden, sind von jeglichem Kontext losgelöst. Als solche sollten sie eigentlich eine erschütternde Wirkung auf uns haben. Stattdessen löst der Film Irritation und Freude aus. Dieses Phänomen zeigt die Widersprüchlichkeit, mit der in unserer Gesellschaft Aggression bewertet wird. Der Ansatz, den der Film verfolgt, ist dabei nicht gesellschaftskritisch, sondern der Versuch, diese Widersprüchlichkeit plakativ zu verbinden und somit eine Synthese zu schaffen, wie sie sich im Wesen unserer Gesellschaft und in jedem von uns findet. Lösungen zu bieten, ist nicht die Aufgabe des Films, weil es keine Lösung geben kann. Es bleibt die Diskrepanz zwischen dem Lebensbejahenden und der Freude am Vergehen, ein unlösbarer Zwiespalt zwischen dem erschaffenden und dem zerstörenden Wesen.

Reihenhaus

Eine aus dem Auto heraus gefilmte Fahrt führt vorbei an immer gleichen Einfamilienhäusern eines Hamburger Vorortes. Obwohl die Häuser vom Aufbau alle gleich sind, haben sich im Laufe der Jahre Unterschiede entwickelt, so ist das eine Haus gelb, das andere braun oder weiß gestrichen, hier ist es von einer Hecke umgeben und da fehlt ein Giebelfenster. Das Material ist so bearbeitet, dass es einen Loop bildet, der dem Betrachter zunächst verborgen bleibt, sodass die Häuserreihe unendlich lang scheint. Untermalt ist der Film mit Gitarrenmusik und Gesang, die zunächst heiter die unterschiedlichen Farben der Häuser aufzählt, („ein grünes Haus, ein rotes Haus“) um anschließend ironisch und theatralisch die Liebe zum Reihenhaus zu besingen.

Auch in dieser Arbeit geht es um ambivalente Gefühle und Gesellschaftsbilder. Zum einen das Bild von Heimat, jener perfekte Ort der Kindheit, wo es schön ist und es Platz und Zeit zum Spielen und Ausprobieren gibt. Wo es klare Strukturen und Regeln gibt, die Halt bieten und einen auffangen. Ein Gefühl, das in seiner Vollkommenheit nie wirklich real, sondern immer idealisiert in unseren Köpfen ist, sei es als nie erreichtes Ideal oder als verklärte Kindheitserinnerung. Dieses Bild gibt uns Stabilität, Herkunft und Identität.

Zum anderen die Mobilität, das moderne Dogma von Flexibilität und Spontanität. Das immerwährende in Bewegung Bleiben, das Suchen nach dem perfekten Moment, der richtigen Zeit am richtigen Ort, immer im Wandel, immer im Fluss. Vor allem in der Werbung wird dieses Bild stark suggeriert. Um glücklich zu sein, muss man agil sein, sich bewegen, sich immer weiterentwickeln, sich selbst finden, seinen eigenen Weg finden. Wer stehen bleibt, verliert, wer sich nicht bewegt, bleibt zurück. Das Sich-Bewegen an sich wird zum glorifizierten Ziel, nur durch Bewegung kann man sicher sein „die Welt gesehen zu haben“ und somit die beste Option gefunden haben, das Beste für sich herausgeholt zu haben. Ein Gedanke, der vom Drang nach Selbstoptimierung und Leistung geprägt ist, somit ein starkes Ideal unserer Zeit. Dieses Ideal steht im krassen

Wiederspruch zum Heimatgedanken, weil es Kontinuität und beständige Strukturen ablehnt und als rückwärtsgewandte Spießigkeit diffamiert.

Mir stellt sich die Frage, warum oft eine so extreme Ablehnung gegen diese Strukturen vorherrscht, die mit den Orten der jeweiligen Kindheit verbunden sind. Ich hatte eine schöne Kindheit und nicht ohne Grund zieht es jetzt, da wir die 30 überschritten haben, viele Freunde und Bekannte zurück in eben jene Strukturen, die noch vor ein paar Jahren so vehement abgelehnt wurden. Der Film lädt ein, zu hinterfragen, was tatsächliche Kritik und was Sehnsucht nach Veränderung und nach Neuem ist oder war. Wir blicken abschätzig auf solche Leute, die noch da wohnen, wo sie groß geworden sind, aber ein Freund, der noch immer im Haus seiner Eltern wohnt sagte einmal, es sei kein Wunder, dass sich nichts verändere, wenn alle, die etwas bewegen könnten, den Orten ihrer Herkunft den Rücken kehrten. Viele junge Menschen blicken abschätzig auf ihre Eltern, weil sie seit Jahrzehnten in den gleichen Strukturen agieren. Dass diese Strukturen oft nicht freiwillig angenommen, sondern in Kauf genommen wurden, um den Kindern das bieten zu können, was man hinterher eine glückliche Kindheit nennt, wird dabei oft übersehen.

Der Film geht diese Frage sehr plakativ an. Für mich spiegelt der Film das Gefühl, was ich hatte, wenn ich vier Jahre nach meinem Auszug mein Elternhaus besuchte. Man kennt jeden Stein und es ist alles immer gleich, kaum Abwechslung, keine Bewegung. Aber man gehört nicht mehr dazu, man fährt nur vorbei, ist nicht mehr Teil dieser Inszenierung von Geborgenheit. Die ironische Musik, ein improvisiertes Stück inspiriert von dem Song „Little Boxes“ von Pete Seeger (Malvina Reynolds 1962; Pete Seeger 1964, Live at Carnegie Hall 1963) bot mir das nötige Maß an Ironie, um meinen Gefühlen diesem Ort gegenüber mit Abstand begegnen zu können. Auch hier soll der Film zugleich Spiegel meiner Gedanken und Denkanstoß sein. Jeder, der aus ähnlichen Strukturen stammt, wird dieses Bild emotional erfassen können. Es bleibt offen, mehr Frage als Lösung.

Tim & Lisa

(Kurzfilm, 2016, 20min, HD)

Tim tritt sein Freiwilliges Soziales Jahr im Behinderten-Pflegeheim an. Auf der Suche nach Sinn und Anerkennung lässt er seine Freundin und seine Familie zurück und zieht in das dem Heim angeschlossene Wohnheim. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist er bald im Arbeitsalltag angekommen und beginnt Spaß an der Arbeit zu haben. Seine Lieblingsbewohnerin ist Lisa, eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau, die sich weder bewegen noch sprechen kann. Das Gefühl Gutes zu tun und die Zuneigung, die er bei Lisa zu erkennen glaubt, motivieren ihn zu Engagement, das weit über seine Pflichten hinausgeht. Als die Beziehung zu seiner Freundin in die Brüche geht, wirft das Tim vollkommen aus der Bahn. Er beginnt sich zu isolieren und den Kontakt zu seinem sozialen Umfeld abzubrechen. Das dadurch entstehende Vakuum versucht er durch die Beziehung zu Lisa zu füllen. Diese, unfähig sich zu artikulieren und sich so der ihr aufgebürdeten Rolle zu entziehen, wird zur Projektionsfläche und zum Ventil für Tims Gefühlswelten, die sich mehr und mehr verselbstständigen.

Sich selbst zu erhöhen und zu erniedrigen, nach außen eine scheinende Fassade zu wahren und nach innen überkritisch und gnadenlos mit sich selbst zu sein ist ein Phänomen, dass auch in dem Buch „Die hilflosen Helfer“ (Wolfgang Schmidbauer: „Die hilflosen Helfer: Über die seelische Problematik der helfenden Berufe“, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1. Aufl. 1977.) beschrieben wird. In dem Buch wird es als Teil des „Helfersyndroms“, eines krankhaften Verhaltens, aufgeführt. Ich denke, dieses Verhalten ist uns allen gegeben und tritt immer dann in Erscheinung, wenn wir mit unserem jeweiligen sozialen Umfeld überfordert sind. Der Schritt zur Krankhaftigkeit ist lediglich ein gradueller.

Mein Interesse an der Problematik des überforderten Helfers rührt daher, dass ich selbst mehrere Jahre in einer Pflegeeinrichtung für Schwerbehinderte gearbeitet habe. Nach einiger Zeit machten sich immer mehr Unmut und Wut bemerkbar, die ich nicht einordnen konnte. Ich hatte damals die Neigung, die Ursache dieser Wut bei den Bewohnern zu suchen, sodass mir alltägliche Macken und Ticks zunehmend auf die Nerven gingen. Ich war nicht in der Lage, diese Verschiebung der Ursachenwahrnehmung als solche zu erkennen und so blieb nur eine Wut auf die jeweiligen Bewohner zurück, von der ich wusste, dass sie ungerechtfertigt war, die ich dennoch nicht abstellen konnte. Ohne die genauen Gründe analysiert zu haben, legte ich die Arbeit in der Pflege nieder. Erst Jahre später erkannte ich, dass ich den Abstand zu den Bewohnern verloren hatte. Ich hatte aus dem Bedürfnis heraus, mehr zu leisten als lediglich körperliche Pflege mir ihre Sorgen und Probleme zu Eigen gemacht, bzw. mir selbst um sie Sorgen und ihre Probleme zu meinen gemacht, ohne dass mich jemals jemand dazu aufgefordert hätte. Unter diesem Gesichtspunkt bereitete es mir große Sorgen, den Verlauf der jeweiligen Krankheiten zu beobachten. Mit grade mal 20 Jahren war ich nicht in der Lage, mit dem Vorgang des Alterns und des Vergehens umzugehen. So sah ich das Altern der Bewohner nicht als natürlichen Prozess allen

Lebens, sondern als schleichenden Verfall, der mir das Gefühl von Machtlosigkeit vermittelte und mich an meinen Fähigkeiten als Pfleger und Mensch zweifeln ließ. Es kam nicht von ungefähr, dass der letzte Auslöser, mein Arbeitsverhältnis niederzulegen, ein Todesfall in meiner Wohngruppe war. Es zeugt natürlich von einer gewaltigen Selbstüberschätzung und Arroganz, zu glauben, man könnte den Verlauf einer Krankheit wie Multiple Sklerose allein durch Aufopferung und guten Willen beeinflussen. Wenn mich jemand damals gefragt hätte, hätte ich dasselbe gesagt. Dieser Anspruch, etwas Besonderes zu leisten war ein unterbewusster Drang, ein Verlangen nach Anerkennung. Ich versuchte meine Arbeit besonders gut zu machen, gewissenhafter zu waschen, mehr auf die Leute einzugehen. Dass dieses Bemühen nicht in der Form gedankt wurde, wie ich es mir erhoffte, frustrierte mich. Ich erwartete Dankbarkeit, ein freudiges Lächeln, wenn ich den Raum betrete. Jemand leistet ungebeten mehr Arbeit, als von ihm verlangt wird und erwartet hinterher Dankbarkeit, in einem Pflegeheim, in dem das Personal in erster Linie eine Funktion erfüllt und dazu da ist, die Menschen zu unterstützen, um ihnen ein möglichst normales Leben zu ermöglichen und dabei so wenig wie möglich in Erscheinung zu treten.Trotzdem ist dieser Mechanismus in fast jeder Beziehung allgegenwärtig.

Ein Beispiel: Partner 1 räumt die Küche auf und putzt die Fenster, will dem anderen einen Gefallen tun und ihm oder ihr eine Überraschung bereiten. Partner 2 kommt nach Hause, bemerkt nichts von den Veränderungen und fängt an über etwas zu reden, was ihn grade beschäftigt. Die Folge ist, dass Partner 1 sauer und gekränkt ist, weil Partner 2 die geleistete Arbeit nicht honoriert. Partner 2 weiß aber gar nicht was passiert, ist noch in Gedanken ganz woanders und kann sich nicht erklären, wo die schlechte Laune plötzlich herkommt.

Solch ein Mechanismus ist in jeder Beziehung schädlich und in der Beziehung Pfleger-Bewohner vollkommen unangebracht. Dass er dennoch stattfindet, zeigt einen massiven Mangel an professioneller Distanz, wie es bei mir damals der Fall war. Nun eignen sich Personen, die wenig eigene Initiative zeigen und sich in der Regel schlecht artikulieren können wunderbar als Projektionsfläche für solche unangemessenen Wünsche nach Anerkennung und Dankbarkeit.

Im Nachhinein war ich sehr erschrocken über die Aggressionen, die sich über die Jahre in mir aufgestaut hatten. Ich begann zu überlegen, was mit mir hätte passieren können, wenn ich nicht ein so unterstützendes Umfeld von Familie und Kollegen gehabt und ich mich nicht aus einem Instinkt heraus im richtigen Moment diesen Mechanismen entzogen hätte. Ich begann das Bild eines Soziopathen zu zeichnen, der mehr als ich im eigenen, idealisierten Selbstbild verhaftet ist. Ich malte mir das Bild eines Menschen aus, dessen Selbstwertgefühl so zerfressen von Zweifeln ist, dass jede Kritik an der eigenen Person unweigerlich zum Zusammenbruch führt. Deshalb wird eine Mauer errichtet, eine Fassade aus Idealen und Ansprüchen an die eigene Person. Gemessen an diesem idealisierten Selbstbild sind alle anderen Menschen unterlegen und nicht in der Lage, die eigene Situation nachzuempfinden und zu beurteilen. So schottet sich das zweifelnde Ego des Pflegers gegen äußere Einflüsse ab und es entwickelt sich eine eigene Dynamik, die das eigene Urteil als absoluten Maßstab setzt und in der sich oben genannten Mechanismen frei entfalten können. Der Pfleger ist nicht mehr in der Lage, Hilfe anzunehmen oder Kritik zu verarbeiten, äußere Einflüsse werden nur dann aufgenommen, wenn sie in sein Bild passen, alle anderen werden abgewehrt oder ignoriert. So entstand die Figur des Pflegers aus einer Überzeichnung meiner eigenen Situation. Ich stellte natürlich schnell fest, dass ich nicht der einzige bin, dass diese Prozesse in allen helfenden Berufen zu finden sind und schon seit Langem in anerkannter Fachliteratur behandelt werden. Mir wurde klar, dass die dort stattfindenden Mechanismen nicht nur im beruflichen Umfeld, sondern je nach Grad der Kommunikation mehr oder weniger in jeder zwischenmenschlichen Beziehung stattfinden. Als ich allerdings anfing, meine Mitmenschen in Bezug auf dieses Verhalten zu beobachten, musste ich erschrocken feststellen wie wenig Raum diese Problematik im öffentlichen Bewusstsein findet. Im Gegenteil neigen wir dazu, durch Bilder, die uns in den Medien, in Geschichten, ja sogar in Werbebroschüren der jeweiligen Berufsgruppen allgegenwärtig sind, die Position des Helfers vollkommen unreflektiert zu überhöhen. Auf der anderen Seite lässt sich das oben genannte Verhalten allerorten beobachten, es ist allgegenwärtig in unserem beruflichen und sozialen Leben.

Die helfenden Berufe leiden unter einer doppelten Belastung, weil man ihnen einerseits immer höhere Arbeitsbelastungen aufbürdet und ihnen andererseits eintrichtert: „ja ich weiß, es ist hart, aber ihr seid die Helden der modernen Gesellschaft, ihr könnt das Unmögliche möglich machen, wir verlassen uns auf euch.“ So überhöht das Ideal, so gering ist die tatsächliche Bestätigung und Unterstützung, die man letztendlich im Alltag erfährt. Das beste Beispiel einer solchen gesellschaftlichen Überhöhung der Person sind Mütter. Konfrontiert mit einem massiv idealisierten Bild, wie man zu sein und zu funktionieren hat, lässt die tatsächliche Unterstützung nach der Geburt eines Kindes schnell nach. Junge Frauen, die den Umständen, aus welchen Gründen auch immer, nicht gewachsen sind, weigern sich oft bis zum Äußersten, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil „eine gute Mutter sowas kann.“ Ein guter Arzt nimmt auch 24 Stunden- Schichten in Kauf.

Eine gute Hebamme ist immer unter allen Umständen verfügbar.

Ein guter Pfleger kümmert sich immer aufopferungsvoll um seine Schutzbefohlenen.

Meine Intention, diesen Film zu machen, war jedoch nicht der missionarische Gedanke, Missstände anzuprangern, weil ich darin nicht die Aufgabe meiner künstlerischen Arbeit sehe. Vielmehr sollte mein Wirken ein überspitztes Abbild der Situation darstellen, die symptomatisch für diesen Missstand ist. Der einzige Weg, dies auf eine ehrliche und authentische Art und Weise zu tun, ist aus meiner eigenen Erfahrung zu schöpfen.